Unsichtbare Wege ins Freie

Astrid Schmeda
Unsichtbare Wege ins Freie, Eine Erzählung
ISBN 978-3-943446-52-4
160 Seiten, Preis: € 14.-

Simone lebt seit zehn Jahren in Südfrankeich in einem Wohnprojekt, ihr Sohn Yann studiert Musik in Toulouse. Simone ist Klavier-Stimmerin. Am Morgen nach der Verordnung „Bleiben Sie zu Hause!“ steht Xavier vor ihrer Tür, den sie aus der Klavier-Stimmer-Gruppe kennt. Er möchte nicht allein eingesperrt sein, und sie nimmt ihn auf. In dem eingeschränkten Leben ist alles, was ihnen sonst Verdienst und Struktur gab, weggefallen. Simone führt Xavier in ihre Öko-Gruppe ein, der es um Décroissance geht, die Ablehnung des Wirtschaftswachstums. Sie finden Wege und geheime Orte, um sich zu treffen und ihre Arbeit fortzusetzen, organisieren Konzerte. Simone und Xavier gehen eine immer tiefere Nähe ein, doch sie stellen fest, dass die Einsperrung sich auch auf ihre sexuellen Empfindungen auswirkt. Nachdem die Regeln gelockert werden, tauchen zwischen ihnen Missverständnisse und Verletzungen auf. Sie müssen sich aus der Symbiose hinaus wieder zu eigenständigen, erwachsenen Individuen entwickeln.

Leseprobe
Simone lag wach. Die Nachttischlampe warf ein sanftes Licht über ihr Zimmer. Ihr Herz klopfte laut. Null Uhr dreißig hatten sie angerufen.
Alles wurde abgeriegelt. Alles verboten.
Halten Sie sich an die Regeln. Bleiben Sie zu Hause.
Waren sie denn verrückt geworden? Die paar Toten gab es doch immerzu, niemand kümmerte das. Krankheiten jede Menge, Alte starben, manchmal auch Jüngere, alles normal. Warum machten sie jetzt solch ein Spektakel?
Simone konnte sich nicht beruhigen. Yann war in Berlin, bei seinem Vater. Aber sicher kümmerte der sich nicht darum, was sein Sohn nachts trieb. – Mama, hier ist alles normal, die Kneipen sind geschlossen, aber hinter den Jalousien wird gefeiert! So hatte Yann vor drei Tagen am Telefon geredet. Doch jetzt wurden die Grenzen geschlossen. Simone setzte sich auf. Sie machte das Licht aus, um aus dem Fenster sehen zu können. Als die Italiener die Grenzen schlossen, war sie schon in Panik geraten. Sie hatte alles vorausgesehen, es würde kommen wie in China. Aber als sie Olaf anrief, ihren Ex, fand er sie hysterisch. Gestern hatte sie es nicht mehr ausgehalten und Yann nochmal angerufen. Und da hatte er doch davon gesprochen, dass er Angst bekam. Sein Freund war schon abgereist. Auch er hatte seinen Flug umgebucht, er würde am anderen Tag zurück fliegen. Also heute.
Simone sah draußen die große Zypresse sich bewegen. Es war etwas Wind. Sie schaute über ihr spitzwinkeliges Dach in den Garten und über den Weg zum nächsten Haus, das hinter hohen Büschen lag. Kein Licht. Nur eine matte Straßenlaterne an der Ecke. Die Welt würde weiterbestehen, in ein, zwei Wochen wäre… vielleicht später, in China hatte es zwei Monate gedauert, dann wäre es Mitte Mai, da wollten die ersten Gäste aus Deutschland kommen.
Simone schloss die Läden, legte sich zurück ins Bett. Heute gegen Mittag würde Yann in Toulouse landen, und er wäre in Frankreich, alles andere war nicht wichtig. Zwar war er zweieinhalb Stunden von ihr entfernt, aber er lebte auf dem Lande, da würde ihm nichts passieren.
Simone hatte keine Angst vor der Krankheit. Sie hatte Angst, dass ihnen allen die Freiheit genommen würde  selbst zu entscheiden, zu denken, zu handeln.

Am frühen Morgen ging sie ihren gewohnten Weg durch den Park. Die Regelungen würden erst mittags beginnen.
Simone wohnte in einem Wohnprojekt aus mehreren Häusern von verschiedenem Zuschnitt und einem großen Garten mit gemeinsamem Schwimmbad am Rande der Kleinstadt Thoret. Palmen und Schirmpinien säumten den Weg. Hinter dem Park begann die Natur. Sie ging einen schmalen Weg bergauf, ein niedriger Steineichenwald bedeckte die beginnenden Berge. Oben auf einer Kuppe hatte sie zur einen Seite einen Blick über die Dächer der Stadt und die weite Ebene von Perpignan, und zur anderen schaute sie zu den Pyrenäen am Horizont mit ihren gezackten Konturen und dem gewaltigen schneebedeckten Bergmassiv des Canigou. Breit lag er da mit mehreren Gipfeln und gab ihr jeden Morgen Gewissheit.
Auf dem Rückweg kamen ihr verschiedene Menschen entgegen, die ihre Hunde ausführten, sie trafen sich jeden Morgen und begrüßten sich. Im Park waren jetzt einige Jogger unterwegs. Ein Mann und eine Frau aus den Nachbarhäusern standen zusammen, Simone sagte Bonjour und stellte sich dazu.
Alle Schulen geschlossen… auch Cafés, Restaurants, nur die lebenswichtigen Läden…
Auch kein Markt? fragte Simone.
Natürlich nicht, erklärte Anne. Das ist viel zu gefährlich! Es wird kommen wie in Italien. Da dürfen sie nur hundert Meter aus dem Haus!
Aber wir dürfen einen Kilometer, beruhigte Edgar sie, zum Sport machen. Hast du deine Morgenrunde schon abgemessen? fragte er Simone schmunzelnd.
Das werde ich nicht! protestierte sie. Findest du nicht, dass es etwas übertrieben ist?
Im Gegenteil! rief Anne aus. Es ist viel zu spät. Sie hätten schon viel eher reagieren müssen!
Simone verabschiedete sich. Es wohnten hier merkwürdige Leute. Sie würde gern in einem Wohnprojekt mit aufgeschlossenen Menschen leben. Edgar wohnte im Haus gegenüber, ihn hatte sie eher für offen gehalten.

Es gab in ihrem Weiler sehr unterschiedliche Wohnformen. Große Wohnungen für ältere Menschen, die zusammen leben wollten, oder Mehrfamilienhäuser und Einzelvillen wie ihre.
Als Olaf und sie sich vor zehn Jahren entschieden hatten, hier einzuziehen, waren sie davon ausgegangen, dass es wirklich ein Gemeinschaftsprojekt würde. Aber es entwickelte sich schnell zu einer normalen Eigentümer-Residenz. Sie hatten ihr Haus gewählt, weil es von der Bauweise ungewöhnlich war. Unter dem sechseckigen Dach, das wie ein Zelt gespannt aussah, lag ein riesiger Mehrzweckraum mit Küche, Wohn-Ess-Bereichen, Spielecke für Yann, und auch ihr Klavier stand unter einem Zipfel des Daches. Über eine offene Holztreppe erreichte man ein Schlafzimmer mit Bad. Angebaut an dieses Zeltrund war ein schlichtes Gebäude mit dem Eingangsbereich, Wirtschaftsräumen und oben zwei Schlafzimmern mit jeweils eigenem Bad. Hier hatte Yann sein Zimmer gehabt und das andere vermieteten sie an Feriengäste.
Die Beziehung zu Olaf war aber durch dieses gemeinsame Projekt, im Süden Frankreichs zu leben, nicht besser geworden. Es war Simones Sehnsucht, nicht wirklich seine. Er war nicht von seiner Berliner Firma losgekommen, wie vorgesehen und darum zurückgekehrt. Das Haus hatte er ihr überlassen, dafür zahlte er ihr keinen Unterhalt. Yann war, nach zwei Jahren in Thoret, gerade gut integriert in der Schule und wollte nicht zurück.

Simone hatte eine Weile an ihrer Haustür gestanden. Sie war trotzdem zufrieden damit, hier zu leben, fühlte sich durch die anderen Bewohner um sie herum beschützt, obwohl sie nicht viel Kontakt mit ihnen hatte. Sie hatte schnell Kunden gefunden, die ihr Klavier stimmen lassen wollten. Perpignan war nicht weit, wo die Bessergestellten, deren Kinder Klavierunterricht bekamen, lebten, auch gab es dort das Konservatorium.

Simone war dabei, ihr Frühstück zu bereiten, da klopfte es an die Tür. Sie hatte einen Türklopfer, keine Klingel. Als sie etwas misstrauisch die Tür öffnete – sie erwartete einen Regierungsvertreter, der ihr verbieten wolle, bis zum nächsten Bioladen zu fahren – stand vor ihr ein Mann mit einem Koffer. Es war Xavier, auch ein Klavierstimmer, er lebte in Perpignan, sie mochte ihn. Xavier war etwa zehn Jahre älter als sie, Anfang 50, er trug die längeren, braunen Haare zum Pferdeschwanz gebunden, hatte ein schmales, offenes Gesicht und schöne, dunkle Augen.
Simone starrte ihn an. Wolltest du mein Klavier stimmen? fiel ihr nur ein, und beide lachten. Oder willst du verreisen?
Ja, sagte Xavier, aber ich bin schon angekommen, wenn du erlaubst. Ich möchte nicht allein eingesperrt werden und wollte dir vorschlagen, dass wir eine Confinement-Gruppe gründen.
Simone verstand nichts und bat ihn herein. Hast du schon ge-frühstückt?
Sie kochte ein zweites Ei, deckte den Tisch, während er langsam durch ihren ausladenden Raum wanderte.
Er kam nicht zum ersten Mal in ihr Haus. Sie trafen sich jeden Monat reihum in einer Gruppe Klavierstimmer- und -lehrerInnen, einige machten beides, auch Xavier. Simone dagegen vermietete die beiden Zimmer in der Saison, denn allein vom Klavierstimmen zu leben war kaum möglich.
Ich habe heute Nacht eine SMS erhalten, sagte Simone und schenkte Kaffee ein. Aber ich weiß nicht, was Confinement bedeutet.
Ausgangssperre. Alle sollen möglichst ihre Wohnung nicht mehr verlassen, erklärte Xavier.
Simone schüttelte den Kopf. Das geht doch gar nicht.
Es gibt Ausnahmen. Du musst dir ein Attest ausdrucken oder auf dein Smartphone laden…
Ich habe keins.
Er grinste. Ach ja. Also, du brauchst immer, wenn du rausgehst, eine Bescheinigung, da kreuzt du jedes Mal an, was du vorhast. Du darfst einkaufen, Sport machen…
Alle Läden haben geöffnet?
Nur die notwendigen Lebensmittel.
Auch Bio?
Sicher auch. Es soll aber in deiner Nähe sein.
Und unsere Arbeit?
Er legte eine Hand auf ihre, wohl um sie zu beruhigen, vielleicht gefiel es ihm aber auch, dass sie „unsere“ gesagt hatte.
Im Prinzip soll jeder zu Hause am Computer seine Arbeit erledigen.
Simone lachte.
Ja, ich weiß auch nicht, wie sie sich das vorstellen. Nur system-relevante Betriebe dürfen weiterlaufen. Klavierstimmen dürfte eigentlich keine Gefahr darstellen. Aber Klavierunterricht wird nicht möglich sein, ich sitze ja ganz dicht neben meinen Schülerinnen und Schülern.
Systemrelevant? Simone zog das Wort in die Länge. Ich verstehe nicht, warum sie die Schulen schließen. Es heißt doch, Kinder sind nicht betroffen.
Simone war erleichtert, dass Xavier da war und sie alle Fragen, die sie quälten, mit ihm besprechen konnte. Ihm schien das Frühstück zu schmecken.
Meiner Ansicht nach muss man sich eines klar machen, beton-te er. Da sie nichts wissen – sie kennen die Krankheit nicht – befürchten sie, dass sie nicht genug Krankenhausbetten haben. Alles, was sie anordnen, geschieht nicht in erster Linie, um uns vor der Krankheit zu schützen. Es geht nur darum, zunächst jedenfalls, dass es nicht zu solchen Katastrophen kommt wie in Italien. Deshalb wollen sie durch radikale Maßnahmen die Ansteckungsrate verringern, oder, wie sie sagen, verlangsamen.
Also müssen wir ausbaden, dass sie in den letzten Jahren die Krankenhäuser kaputt gespart haben. Hatten wir nicht vor kurzer Zeit erst Streiks des Krankenhauspersonals, weil sie zu schlecht besetzt und bezahlt sind? bemerkte Simone scharf.
Xavier nickte, sah sie an. Ich bin froh, dass du so denkst wie ich.
Das hättest du schon wissen können. Sie lächelte ihn an. Und jetzt erkläre mir, warum du gekommen bist.
Xavier lehnte sich zurück. Ich habe die ganze Nacht wach gelegen. Ich fand die Vorstellung, die nächsten vier Wochen allein in meinem Haus zu sitzen, ohne Kontakt, nicht verlockend. Außerdem machte mich der Gedanke traurig, dich auf unbestimmte Zeit nicht mehr sehen zu können.
Er schickte ihr ein kleines, unsicheres Lächeln.
Simone reagierte sofort auf die „unbestimmte Zeit“: Aber sie haben das Datum 15. April angegeben! Dann merkte sie, dass er ihr etwas offenbart hatte.
Sie schwieg eine Weile, sah ihn an. Ich kann es mir vorstellen. Ich hab ja Platz, die beiden Gästezimmer stehen leer.
Ich möchte gerne wissen, ob es dir auch lieb wäre.
Sie standen gleichzeitig auf. Es wäre mir lieb, jemanden hier zu haben, mit dem ich gut reden kann und …sagte Simone.
Er kam auf sie zu und nahm sie in den Arm. Nur kurz. Ich freu mich, sagte er dann. Wir sprechen alles genau ab, dass du dich nicht gestört fühlst. Ich weiß ja, wie es ist, wenn man gewöhnt ist, allein zu leben.
Sie nickte. Soll ich dir das Zimmer zeigen?
Sie kannte ihn gar nicht, jedenfalls nicht so nahe. Aber notfalls könnte er in seine Wohnung zurück.
Nur das Klavier, fiel ihr ein, als sie die Treppe hinaufgingen. Wie viel spielst du am Tag?
Ich hab in meinem Häuschen auch begrenzte Zeiten, wegen der Nachbarn. Wir können das alles absprechen.
Du nimmst das größere, nebenan ist es kleiner, erklärte sie.
Es war ein geräumiges Zimmer unter einer Dachschräge mit einer Schlaf- und einer Wohnecke, einem großen Fenster und einem hübschen Bad.
Ich habe gedacht, dass ich dir dafür etwas zahle, sagte er vorsichtig.
Unsinn! Du bist doch kein Gast! Wir wohnen jetzt zusammen für vier Wochen, oder wie lange die Einsperrung dauert. Wir sind eine Confinement-Kleingruppe!
Danke. Ich freu‘ mich sehr. Er strich mit einem Finger über ihre Wange. Ich muss mich erst mal schlafen legen.
Ich fahre einkaufen, entschied Simone. Sehen wir uns zum Mittag?