Quasi Una Fantasia

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Quasi una Fantasia – Wie ein Traum erschien Fanny Mendelssohn das Jahr in Italien. Es ist das Thema ihres Januar – Stückes, denn im Januar 1844 begann ihre Zeit in Rom, in der sie sich gründlich veränderte: fern von den Einschränkungen der Familie in Berlin und den Konventionen ihres Standes entwickelte sie sich zur bewunderten und gefeierten Pianistin und Komponistin. Auch die Klavierlehrerin Selma, die Fannys Geschichte erzählt, hatte in ihrer Kindheit den Traum, sich aus der Enge der familiären Zwänge der 50iger Jahre heraus zur Frau und Künstlerin zu entwickeln.

Fanny, Tochter aus reichem, bürgerlichen Hause jüdischen Ursprungs, war die hochbegabte ältere Schwester des berühmten Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy. Sie erhielt die gleiche Ausbildung wie die Brüder, doch ihr war seitens des strengen Vaters der Weg in die Öffentlichkeit versperrt. Nach dem Tod des Vaters übernahm Felix die Aufgabe, Fanny an ihre Hausfrauen- und Mutterpflichten zu binden und ihr die Veröffentlichung ihrer Werke zu versagen. So kämpfte Fanny zeitlebens mit der Beschränkung, nur eine Frau zu sein – und schrieb dennoch. Auf ihrer Reise mit ihrem Mann Wilhelm Hensel und ihrem Sohn Sebastian nach Italien, vor allem aber in Rom, löste sie sich aus den familiären Beschränkungen und erlebte zum ersten Mal das Glück, Anerkennung und Bewunderung zu erfahren als Pianistin, als Komponistin – und als Frau: Sie begegnete dem Komponisten Gounod, der sie glühend verehrte und zu dem sie eine zärtliche Zuneigung entwickelte.

Fannys Jahr in Italien wird in dem Roman erzählt von der Klavierlehrerin Selma, die in der heutigen Zeit lebt. Selma wendet sich wie in einem Brief persönlich an Fanny und kommt ihr dadurch sehr nahe. In einer kurzen Rahmenerzählung am Ende jedes Kapitels erinnert Selma sich an ihre erste Begegnung mit dem Klavier, an ihre Klavierstunden, und wie das Klavierspiel sie aus der Enge ihres Zuhauses heraushob. Die Sehnsucht nach einer künstlerischen Entwicklung geht zusammen mit der Entwicklung vom Mädchen zur Frau und den Hindernissen, vor die sie sich durch ihren Vater, aber auch durch ihre soziale Herkunft, gestellt sieht.

Fanny Mendelssohn starb, kurz nachdem sie ihre ersten Veröffentlichungen wagte, mit 42 Jahren in Berlin. Felix zerbrach an ihrem Tod und folgte ihr ein halbes Jahr später.

Der Roman, in 12 Kapitel gegliedert, orientiert sich an den 12 Klavierstücken, die Fanny nach ihrer italienischen Reise wie ein musikalisches Tagebuch schrieb. Durch die Rahmenhandlung wird die Geschichte Fanny Mendelssohns in einen aktuellen Bezug gestellt.

1.Auflage 2002 (in limitierter Sonderauflage mit eingelegter CD: Fanny Mendelssohn-Hensel, „Das Jahr – 12 Charakterstücke für das Forte Piano“, eingespielt von Liana Serbescu)
Edition Nautilus, Hamburg
ISBN 3-89401-395-8

Leseprobe

Du würdest gern überprüfen, ob der Karneval in Rom noch so ist, wie Goethe ihn beschrieben hat. Den ersten Blick auf den Karnevals verschafft Ihr drei Euch von einem Balkon. Doch Du weiß gleich: Du möchtest näher heran. Die vielen ungewöhnlichen Kostüme kannst Du so von Ferne gar nicht erfassen, Du möchtest alles genau sehen. Männer in Frauenkleidung auf den Kutschböcken. Die verschiedensten Nationalitäten endeckts Du und die verrücktesten Gestalten. Und überall aus den Fenstern wird mit Mehl geworfen und mit Konfetti, eimerweise. Noch manchen Dir diese Ladungen, die alle ohne ansehen der Person, feine Damen wie kleinen Strolchen, ins Gesicht geworfen werden, etwas Angst.

Einmal versucht Ihr es zu Fuß, aber dabei geratet Ihr so sehr ins Gedränge, dass Du nichts mehr sehen kannst, auch besteht Gefahr, daß Ihr Euch verliert. Schließlich mietet Ihr Euch eine Kutsche, und nun erlebst Du, was der eigentliche Spaß ist. Es gibt einen Kampf unter den Kutschen, der mit Gipswurfgeschossen, Blumensträußen, Konfetti und Mehl ausgetragen wird. Du weißt bald nicht mehr, wo Du zu erst hinschauen und was Du tun sollst. Du läßt Dich vollkommen in diesen Wirbel fallen, das Geschrei, das Lachen, Ausweichen und Bewerfen.

Ihr entdeckt Wagen mit skurrilen Gestalten, es fahren Maskierte auf Eurem Trittbrett mit, mit denen Ihr debattiert. Du denkst nicht daran, was die anderen denken, nicht, was mache ich für ein Gesicht, was wird von mir erwartet? Du schreist mit Sebastian um die Wette, das Ihr am Abend heiser seid. Jette schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, als sie Euch heimkommens sieht. Aber Ihr wollt gleich wieder los. Jetzt fährst Du auch ohne Wilhelm, der immer noch schnell erschöpft ist. Du bist im Rausch, Du kennst Dich selber nicht wieder. Noch nie hast Du alles so hinter Dir gelassen. Du wirst angelacht und lachst zurück. Ein wildes Tempo erfaßt Dich. Da sind Deine schnellen Treppenstufen, das Hinunterpoltern und leichtfüßige Hinauflaufen. Das es regnet, stört Dich nicht. Nur weiter! Leben, jetzt! Alles fällt vom Dir ab, die Todesangst, die Fremdheit und das Gewand der sittsamen preußischen Bankierstochter. Du hörst Dein Lachen und wunderst Dich – so einfach ist das Glück zu finden? Du kannst Dich nicht satt sehen an diesen entzückenden, farbenprächtigen Gestalten, diesen Reichtum an Phantasie und Tollheit. Du entdeckst wieder, was Goethe beschrieb. Es ist, als sei er gerade noch dabei gewesen.

Höhepunkt und Abschluß ist der Moccoletti – Abend. Jeder auf seiner Kutsche versucht, sein Talglicht zu bewahren und das der anderen auszulöschen. Ihr habt Euch gut präpariert, doch die Angriffe kommen von allen Seiten, Ihr kämpft Euch tapfer durch, es ist schwer, die Lichter wieder anzuzünden, sie werden geklaut, mit Wasser überschüttet, ausgeschlagen. Und selber bist Du so angriffslustig wie Du Dich gar nicht kennst, es ist so ein Spaß! Schließlich aber gebt Ihr auf, und da hörst Du die ganz eigenen Töne dieser Karnevalesken: Senza moccolo! rufen die Maskierten aus den anderen Kutschen Euch zu, aber es ist ein Trauern mit Euch, ein Beschimpfen, ein Auslachen. Sie verstehen diesen Ausruf in allen Tonarten zu singen, verwirrt und erschöpft laß Ihr ist geschehen. Da hörst Du die tief in Schlägel der Kirchturmuhr: Zwölf Mal. Im Fest ist aus.

Wie ich diese Schläge Deiner Uhr liebe,Fanny!

Die letzten tanzenden Gestalten huschen zwischen den unerbittlichen, aber auch erlösenden Glockenschlägen davon. Kobolde, Hexen, Gespenster, im milchigen Licht des Mondes, über Treppen, dort hinter einer Straßenecke, noch einmal lacht jemand hell auf. Der Spuk ist vorbei.

Das Sichtreibenlassen genießt Du in in Rom zum ersten Mal und findest darin ein Lebensprinzip, das der Kunst nicht entgegensteht, im Gegenteil, daß ihre Schätze erst hervorbringt.