Wir zwischen Himmel und Erde

Titel_Himmel

Erstmalige wurde im Mai 1992 der von BRIGITTE ausgeschriebene Bettina-von-Arnim-Preis für Kurzgeschichten verliehen. Teilnehmer konnten bekannte und unbekannter Autorinnen und Autoren – alle, die sich angesprochen fühlten. Mehr als 7000 Texte wurden eingereicht – drei Preisträger gab es: Bettina Grack, Stephan Krawczyk. und Alissa Walser. Aber die Auswhl fiel der Jury nicht leicht, denn es gab sehr viel mehr interessante Geschichten! 30 davon enthält dieses spannende Anthlogie: Liebesgeschichten, Psycho-krimis und Geschichten aus dem deutsch-deutschen Alltag. Ein Buch für alle, die sich gern etwas erzählen lassen.

ISBN: 3-576-10213-2

Leseprobe

Wildwuchs

Die Malven standen in diesem Jahr groß und zierlich, als hätten sie den Tannen nacheifern wollen, von denen sie zeitweise überschattet wurden. Dünne Stengel, die ohne Hilfe von der ersten Bö umgeknickt würden, und auch die Farben so zart, als hätten sie zu viel Anstrengung ins Wachsen vergeudet. Letztes Jahr dagegen waren sie niedrig geblieben und hatten gar geblüht. Der Waldmeister hatte sich unmäßig über das Beet ausgebreiteten, wucherte unter den Malven und sogar bis zu der größten Mohnstauden, die dieses Frühjahr so üppig geblüht hatten, kurz nur und in einem so kräftig Rot, daß man es von der Straße schon sehen konnte, denn plötzlich waren die riesigen Blütenblätter auseinander gefallen, als seien sie müde nach einer überschwänglichen Nacht, und nun standen nur noch die grünen Dolden, die im Wind leicht klapperten und die Laura bewahren würde zur Aussaat im nächsten Frühjahr.

Zwischen den Lupinen versteckten es sich einige Brennnesseln, Laura setzte die Handschuhe auf. Immer wuchs das Unkraut inmitten der Blumen, die ihm am ähnlichsten waren, um sich unkenntlich zu machen, aber Laura kam ihm auf die Spur. Sie packte mit beiden Armen den Stoß mit Unkraut, Blättern und Geäst, denn sie auf das Beet ausgesondert hatte, und warf alles in eine Schubkarre. Als sie sich aufrichtete, bemerkte sie den Wind, der ihr kalt über den Rücken fuhr. Hatte jemand gerufen? Das Kreuz schmerzte. Vorsichtig führte sie die Karre. Der kleine Weg zwischen den Tannen, die das Grundstück säumten, war jetzt ganz zugewachsen, Laura wandte den Kopf zur Seite, um die stachlichen Zweige nicht im Gesicht zu spüren. Winzige Mücken und Fliegen schwärmten auf, als sie das Dickicht störte, sie presste die Lippen aufeinander und senkte den Blick. Im freien Feld wuchs das Gras meterhoch, hier wurde nur zweimal im Jahr gemäht. Sie kippte das Unkraut hinein und kehrte schnell wieder um.

Wie viel Zeit war vergangen? War es Mittag oder schon am Nachmittag? Und das Kind – sie hatte ihr Kind wirklich vergessen! Nein, es schlief, alles still, sie würde es hören.

Als sie sich daran machte, die Büsche, die sie vor Jahren vor den Tannen gepflanzt hatte, vom Unkraut zu befreien, erreichte sie diese gedrückte Stimmung wieder, die von Unheil sprach. Würde das Wetter umschlagen? Der Wind war stärker geworden, am Himmel zog ein dichtes Gewölke auf, das Blau des Himmels wirkte übertrieben zwischen diesem Grau. Nein, es musste kein Unwetter geben, das war genauso wie an allen vorigen Nachmittagen. Das Unheil wartete andernorts, sie wusste nicht woher und warum. Ein Erdbeben, ein Flugzeugabsturz, ein plötzlicher Krieg, so etwas gab es alle Tage, Verhaftungen, Folter, ein unaufgeklärter Mord. Aber nicht in ihrem Garten. Das erwartete sie nicht.