Meer mein Meer

Astrid Schmeda
Meer mein Meer
Roman
ISBN 978-3-943446-57-9
Preis: € 18,-
432 Seiten
Softcover
Edition Contra-Bass

Inhaltsbeschreibung:
Lerke betreibt eine Ziegenfarm in den französischen Pyrenäen, von ihrem Hof sieht sie das Mittelmeer. Jagos Familie stammt aus Spanien, er ist Bildhauer und führt mit Lerke ein kleines Restaurant in den Bergen. Sie sind mit Freund-innen in einer Gruppe aktiver Umweltschützer. Als ihr Sohn Oliver mit seiner griechischen Freundin Anfang Dezember 2008 nach Griechenland fährt, befinden Lerke und Jago sich für einen einwöchigen Urlaub in Italien. Oliver gerät in Athen, nachdem die Polizei einen Jugendlichen erschoss, in die griechische Revolte und wird verhaftet. Jago fährt sofort mit seinem Motorrad los, um ihn rauszuholen. Lerke folgt ihm. Sie wird von einem Netzwerk geheimer Fäden zu einem Fischerboot in Ascona gelenkt, das sie mitnimmt nach Griechenland. Dort lernt sie Dimi und Yannis kennen und in Athen all die jungen Leute, die für eine gerechte Gesellschaft kämpfen. Jago und Lerke werden in ihre Hausgemeinschaft aufgenommen. Lerke trifft auf Yannis‘ Boot Marco, dessen Großvater in Hamburg-Neuengamme im KZ war. Diese Begegnung führt sie in die Vergangenheit. Während ihres Studiums lernte Lerke, die vom Land kam und wenig von der Welt wusste, 1973 die beiden Studenten Jef und Clemens kennen, mit denen sie im Rahmen eines Seminars eine Gesprächsgruppe im Jugendgefängnis Neuengamme durchführte, am Ort des KZ. Lerke, Jef und Clemens sind davon überzeugt, dass Kriminalität keine individuelle Schuld und nicht mit Strafen zu bekämpfen ist. Die Drei ringen darum, den Jugendlichen zu zeigen, dass sie sie ernst nehmen, und was Solidarität bedeuten kann.

Leseprobe:

Sie ging zu Yannis. Trani, wo liegt das? Auf der Höhe von Bari, meinte er. Sie schaute auf der Karte nach. Yannis stand breitbeinig, war konzentriert, hielt das Steuer und betrachtete seine Geräte. Wir hatten gar keine italienische Küstenwache! fiel Lerke ein. Nein, kann aber noch kommen. Oder vielleicht haben sie keine Lust bei dem Wetter. Kann ich etwas für dich tun? fragte sie vorsichtig. Er sah sie an, grinste. Keine Sorge, ich bin das gewöhnt. Lerke war wieder munter geworden, die frische, kräftige Luft hatte ihr gut getan, aber vor allem wusste sie jetzt Jago und Oliver sicher aufgehoben. Wie gern wäre sie bei ihnen! Sie ging hinunter zu Adriane, öffnete leise die Tür. Sie lag angezogen auf der Koje, hatte sich eine Decke übergelegt und schien zu schlafen. Als Lerke wieder hinauf stieg, kam Marcos hinter ihr her. He, schläfst du nicht? Ich habe etwas geschlafen, aber es fällt mir schwer hier. Ich bin so ein enges Bett und das Geschaukele nicht gewohnt. Ich muss sowieso bald Yannis ablösen. In der Kochkajüte fragte er sie: Ich mache mir einen Kaffee, willst du auch? Oder lieber einen Grog? Lerke schaute ihn an. Seine dichten Haare waren verstrubbelt, er hatte ein weiches Gesicht. Oh ja, das habe ich lange nicht getrunken. Vielleicht kann ich dann schlafen. Als er sich mit den Getränken zu ihr an den Tisch setzte, fragte sie: Hattest du schon Deutsch in der Schule, bevor du im Austausch in Deutschland warst? Es gab nur Englisch und Spanisch, aber ich hatte Deutsch im Wahl-fach, und unser Deutschlehrer hat uns auch den Austausch verschafft. Also drei Sprachen! Das heiße Getränk prickelte durch Lerkes Adern und belebte ihren Körper. Ja, ich wollte gern reisen. Meine Eltern haben erst etwas komisch geguckt, aber sie waren dann doch einverstanden. Darin sind sie offen. Warum komisch geguckt? Weil die Deutschen bei den Griechen nicht gut angesehen sind? Vielleicht. Aber mein Opa, der hat sie ja erlebt, der hat immer gesagt: Es sind nicht alle Nazis. Lerke atmete tief ein und aus. Er hat sie erlebt und konnte das sagen? Hat er erlebt, wie sie im Krieg eure Dörfer zerstört haben? Lerke wollte jetzt keine Angst vor der Wahrheit haben. Der junge Mann saß ihr entspannt gegenüber, beide hielten sie ihre Gläser fest gegen die rollenden Bewegungen des Schiffes. Mein Opa war ein junger Mann, als die Deutschen Griechenland besetzten. Er kämpfte in einer Untergrund-Gruppe gegen sie. Aber sie haben ihn geschnappt. Er wurde verhaftet und deportiert. Lerke setzte sich gerade. Deportiert nach Deutschland? In ein KZ? Ja. Marcos goss sich, als das Meer eine Atempause machte, Kaffee nach. Sie haben nicht nur Juden deportiert, auch Widerständler, wenn sie sie nicht gleich erschossen. Lerke zog sich der Hals zusammen. Und wo? Er war in Neuengamme. Sie musste aufgrund seiner Aussprache etwas nachdenken. Neuengamme? wiederholte sie. Ja, anscheinend gab es auch KZs, in denen die Menschen nicht in die Gaskammern gesteckt wurden, so eines war es. Ein Arbeitslager. Töten durch Arbeit war die Devise. Er sagte es ganz selbstverständlich. Ja, das gab es. Lerke mochte ihn nicht ansehen. Kennst du es? Heute ist es eine Erinnerungsstätte. Ich möchte gern mal hin. Sie sah ihn an. Ja. Ich habe davon gehört. Sie ist erst seit ein paar Jahren da, stimmt das? Ja. Was ist mit dir? Lerke war aufgestanden, etwas schnürte ihr die Kehle ab. Sie schüttelte den Kopf. Ist schon gut. Mein Opa hat sich mit anderen ehemaligen Insassen sehr dafür eingesetzt, dass die Stadt Hamburg eine Erinnerungsstätte einrichtet, erzählte Marcos. Sie hatte nach dem Krieg auf demselben Gelände ein Gefängnis gebaut. Auf demselben Gelände? Lerke setzte sich wieder. Das habe ich nicht gewusst. Ich dachte, es sei irgendwo in der Nähe gewesen. Nein. Erst ein Männergefängnis in denselben Baracken! Und später dann haben sie daneben ein Jugendgefängnis gebaut. Lerke nickte. Wir haben das nicht gewusst. Sie nahm den letzten Schluck von ihrem Grog. Kannst du mir noch einen machen? Warum ist das so ein Schock für dich? Ich habe in Hamburg Sozialpädagogik studiert. Wir haben während des Studiums in diesem Jugendgefängnis Gesprächsgruppen gemacht mit den Jugendlichen. Ist doch o.k., du kannst ja nichts dafür, was vorher war. Er stellte ihr den heißen Grog hin. Aber dass wir es nicht wussten, keiner hat es uns gesagt…