Ein leidenschaftliches Interesse am wirklichen Leben

Titel_Leben

Die Journalistin Lyda besucht, zusammen mit ihrem Freund Leonard, die Spanien-Kämpferin und Anarchistin Ella auf ihrem Landgut bei Nizza. Lyda und Leonard bringen Erfahrungen aus der Kollektivbewegung der 70iger Jahre in Deutschland mit. Leonard ist überzeugter Marxist, aber nicht Kommunist. Lyda fühlt sich der Frauenbewegung verbunden. In Ellas Haus begegnen sie Martin, einem jungen Marseiller, der für Ella Haus und Garten versorgt. Er ist politisch vom Mai 68 geprägt. Außerdem ist Severin, ein Schweizer Geschichtsprofessor, der mit den Kommunisten sympathisiert, bei Ella zu Besuch.

Der Roman beschreibt einen Tag, an dem diese fünf Menschen sich auf der „Esperanza“, Ellas Landsitz, begegnen. Lyda interviewt Ella, sie will über sie schreiben. Durch Ellas Geschichte ist jeder an seine eigene Geschichte erinnert. So gibt es fünf Ich-Erzähler/innen, fünf Perspektiven, fünf verschiedene Assoziationsketten. Gespräche, Gedanken, Erinnerungen und Gefühle, Gegenwart und Vergangenheit stehen gleichwertig nebeneinander. Die Suche nach individueller Freiheit und kollektivem Leben der 70iger Jahre wird zurückgeführt auf ihre Wurzeln, den „kurzen Sommer der Anarchie“ in Spanien 1936, und Ellas Kampf gegen Faschismus und Stalins Diktatur.

„Ein gesunder Abscheu vor den offiziellen Wahrheiten, vor dem Gepränge der Macht und ein leidenschaftliches Interesse am wirklichen Leben…“ so charakterisiert Victor Serge die Anarchisten des spanischen Bürgerkriegs.

Roman
Edition Nautilus, Hamburg 1994
ISBN: 3-89401-231-5

Hintergrund zum Roman

Astrid Schmeda wurde durch den Film „Die lange Hoffnung“ der Freiburger Mediengruppe auf Clara Thalmann aufmerksam. Der Film zeigt eine Reise von Clara Thalmann und Augustin Souchy, erster Sekretär des Anarchistischen Syndikalismus, Anfang der 80iger Jahre nach Spanien, an die Stätten des Kampfes und der anarchistischen Kollektivbewegung.
Astrid Schmeda reiste im Oktober 1986 zusammen mit Gerhard Stange zu Clara Thalmann in das Landhaus La Serena bei Nizza. In den vierzehn Tagen erzählte Clara Thalmann in langen Gesprächen über den Spanischen Bürgerkrieg und über ihr Leben. Sie verabredeten weitere Treffen, da Clara Thalmann wollte, dass A.S. ein Buch über die Serena schriebe. Wenige Monate später starb sie. A.S. fuhr ein Jahr später mit Gerhard Stange und ihrem einjährigen Sohn für Recherchen in die Schweiz, nach Nizza und nach Spanien, wo sie sich für ein Jahr niederließen. Sie begann dort, den Roman zu schreiben. „Ein leidenschaftliches Interesse am wirklichen Leben“ ist keine Biografie Clara Thalmanns, sondern ein Roman, der sich an der historischen Figur Clara Thalmanns orientiert. Die Autobiografie von Clara und Pavel Thalmann „Die lange Hoffnung – Ein Leben für die Freiheit“ diente dabei als Grundlage.

Leseprobe

Recht bald lernte ich die rothaarige Alica näher kennen, wir begegneten uns nicht zufällig häufiger auf dem Klo und saßen in den Pausen zusammen. “ Daß die Frauen sich diese Schikanen gefallen lassen „, tuschelte ich ihr zu,“ wir müssen Sie davon überzeugen, sich zu organisieren. “ – “ nicht organisieren, agieren! “ zischte sie, warf ihre Zigarette ins Klo und ging an ihren Arbeitsplatz zurück. Während der Arbeit tauschten wir bedeutsame Blicke. Alica verstand es, mir mit Gesten und Mimik die Situation unter den Frauen und deren politische Standpunkte deutlich zu machen. Wir sprachen, wann immer wir konnten, die anderen Frauen darauf an, einen Streik zu machen, aber die meisten waren ängstlich oder abweisend.

Alica war radikal in ihrem politischen Wollen, aber sie versuchte nie, mich zu überzeugen. Eines Tages bat ich sie, mitkommen zu dürfen in ihre Gruppe. Ich holte sie vor ihrer Haustür ab, das lag auf dem Weg, und wir beide gingen mit hochgezogenen Schultern durch die feuchte Kühle des Abends, ab und zu klatschten mir letzte Regentropfen von den Dächern auf den Kopf und in den Nacken. Alicas Gruppe traf sich in der engen Wohnstube eines Druckers, außer seiner Frau wohnten noch drei weitere Genossen in seiner Wohnung. Im Laufe des Abends kamen etwa 20 Menschen zusammen, überwiegend Männer, und es wurde ebensoviele Meinungen vertreten. Auch zum Ende der Sitzung gab es keinen gemeinsamen Entschluß. Dieses Vorgehen befremdete mich sehr, ich vertrat stramm die kommunistische Linie. Aber es gab etwas, was ich mir zutiefst merkte, es muß die Art des Umgehens miteinander gewesen sein, auch wenn sie sich heftig stritten und die ungezwungener Offenheit, mit der diese erste Wohngemeinschaft mir entgegenkam, obwohl ich nicht zu ihnen gehörte.

Eines Tages wurde Alica wieder einmal zur Aufseherin gerufen. Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu. Als sie, mit einer stolzen Kopfbewegung die Haare nach hinten werfend, durch die Reihen der arbeitenden Frauen zum Glashaus schritt, hatte ich den Eindruck, der ganze Saal verfolgte gespannt, was geschah. Alica kam bald zurück, und ihr Gesicht war rot vor Zorn. Ihr sollte schon wieder etwas vom Lohn abgezogen werden, weil sie angeblich eine Pause überzogen hatte. Das war das dritte Mal innerhalb kurzer Zeit. Ich sehe noch genau vor mir, wie Alica ihr Metallstück in die Hand nimmt, an dem sie gerade arbeitet. Sie schaut es scheinbar versonnen an, aber ich sie die Kraft, mit der ihrer Hand es umspannt. Dann ein kurzer, abschätzender Blick zum Glaskabäuschen der Aufseherin, Alica holt aus und wirft. Im nächsten Moment erheben sich die Frauen des ganzen Saales, ergreifen ihre Metallstücke und schleuderte sie gegen das Glashaus. Unter Schreien und Rufen verlassen wir unsere Arbeitsplätze, keine der sonst so zögerlichen Frauen arbeitete weiter. Die Aufseherin sitzt in einem Scherbenhaufen. Ich stehe im Gedränge neben Alica und drückte ihrer Hand, die Forderungen nach freiem Klogang, mehr Pausen, nach Angleichung des Frauenlohnes an den der Männer bei gleicher Arbeit sind sofort auf allen Lippen. Inzwischen haben die Männer aus der Halle nebenan unseren Aufstand bemerkt und tun es uns gleich. Sie kommen zu uns herüber und solidarisieren sich mit uns, gemeinsam ziehen wir vors Fabriktor und erklären den Betrieb für bestreikt.

An diesem Abend fahre ich nicht nach Hause. Viele der Frauen und Männer bleiben, um die Fabrik zu bewachen. Wir sitzen in kleinen Gruppen bis tief in die Nacht am Tor, jemand bringt Decken. Wir diskutieren und singen viel. Noch nie haben wir so viel Zeit gehabt, unter uns Frauen zu sprechen.

Am anderen Morgen bin ich sehr früh wach, draußen ist alles ruhig, die Dämmerung liegt grau über den Gebäuden, eine Drossel stimmt ihren Morgengesang an. Eine Gestalt huscht vor dem Tor, ein leiser Pfiff: Ich öffne Florences, wir umarmen uns, sie bringt Kaffee. Inzwischen sind die anderen Frauen aufgewacht und umringen sie erfreut. Als die Fabriksirene pfeift, entgegnen wir ihr mit Gejohle.

Eine Woche später standen Alica und ich auf der Straße. Der Streik war erfolgreich beendet worden, viele unserer Forderungen wurden erfüllt, aber wir beide wurden nicht wieder eingestellt.